Wenn das toxische ICH den Algorithmus bestimmt…

Diese Woche sollte es auf meinen Social Media Accounts um das Thema Zeit gehen. Gestern stürzte alles zusammen. Black Monday. Da war wieder dieses Gefühl: Was machen wir mit unserer Zeit und wie können wir unsere Zeit schützen.

In meinem neuen Buch erkläre ich den Zusammenhang zwischen den Bedürfnissen des toxischen ICHs und den darauf entstehenden Konsum. Das toxische ICH in dir ist nicht in der Lage, frei zu wählen, was es haben möchte, um vielleicht selbstwirksam dein Leben zu gestalten, sondern es fordert schnelle Entlastung. Dazu greift es zu den Möglichkeiten, die die höchste Chance der inneren Entlastung versprechen und gleichzeitig sozial akzeptiert sind. Was das mit Zeit zu tun hat? Die Zeit zwischen dem Bedürfnis des toxischen ICHs und der Befriedigung muss so kurz wie möglich sein. Es ist für dein toxisches ICH nicht möglich abzuwarten, geduldig zu sein und auf Dinge zu verzichten. Das kann es nicht. Gleichzeitig muss die Befriedigung des Bedürfnisses zu einer sofortigen inneren Entlastung führen.

Sozial akzeptiert. Was bedeutet es für eine Gesellschaft die weniger auf Beziehungen und den Umgang mit Gefühlen baut als auf Leistung, Anerkennung und schnellen Impulse? Gefühle werden mit Meinungen vertauscht und nicht verarbeitete Gefühle mit wütenden Meinungen.

Es bedeutet, dass wir unsere Zeit damit verbringen, unsere innere Entlastung zu suchen. Am besten können wir das, wenn es Inhalte gibt, die uns bewegen. Bewegen tut uns das, was uns triggert. Triggern tut uns auf jeder Stufe das, womit wir noch keine sachliche Auseinandersetzung gefunden haben. Das Gefühl der Empörung funktioniert als Zugpferd besonders gut. Kann ich mich empören, dann bin ich in der Lage, all das um mich herum in mein eigenes Weltbild einzuordnen. Mein System hat es leicht und ich werde zum Weltverbesserer und der Feind ist einordbar. In dieser Zeit des Pluralismus eine perfekte und schnelle Entlastung des toxischen ICHs. Die eigene Empörung schließt das Richtig und Falsch mit ein und macht es leicht, wertende Urteile in die Welt zu schicken.

Unterstützt wird dies durch die Art und Weise, wie wir eben unsere Zeit verbringen. Da wundert es nicht, dass so mancher den Eindruck hat, dass die Entwicklung unserer Persönlichkeiten im Mittelalter feststeckt und durch mediale Begleitung modern wirkt.

Doch das Wirken reicht nicht. Denn unsere Geschichte, unsere Prägung hat zu Verhaltensmustern geführt, deren Begleitung und Nachreife es mehr brauchen würde als die sofortige Entladung jedweder Emotionen, um sich besser zu fühlen. Das heißt, es braucht die Verantwortung, alle Meinungen und Vielfältigkeit für Diskussionen zu öffnen, ohne Spaltung zu fordern. Jedoch bringt eine sachliche Auseinandersetzung mit diesen Themen nicht so viel Aufmerksamkeit wie eine emotionalisierte Hexenjagd.

Frances Haugen sagt deutlich: „Eine der Konsequenzen, wie Facebook diese Inhalte auswählt, ist die Optimierung für Inhalte, bei denen Nutzer mitmachen wollen. Dann bleiben sie länger dabei. Ihre eigene Forschung zeigt, dass es am einfachsten ist, Menschen zu Wut zu inspirieren.“

Gefühlt wissen wir das, bestätigt ist der Aufschrei dieser Aussage viel zu klein. Denn lesen wir in der Konsequenz einmal aus, was das bedeutet: Eine Gesellschaft, die nicht gelernt hat, mit ihren eigenen Gefühlen umzugehen, wir in der Intensität der nicht verarbeiteten Traumen bestärkt und diese Verhalten- und Kommunikationsweisen bekommen geradezu eine gespielte soziale Akzeptanz, die zeigt: Sachliche Auseinandersetzung und sich Zeit für den Austausch zu nehmen wird ersetzt durch die schnelle Entlastung und das Loswerden der schnellen Impulse zur eigenen Entlastung. Das bedeutet, dass die soziale Akzeptanz des toxischen ICHs verstärkt wird und der persönlichen Weiterentwicklung der Blick für das Wesentliche erst gar nicht möglich gemacht wird.

Mir war schon während der Recherche für mein Buch etwas schlecht in Anbetracht der Transformationsherausforderungen. Das mulmige Gefühl wird nicht besser. In einer Zeit, in der wir die persönliche Entwicklung und Nachreife als die Kinder der Nachkriegsgeneration dringend brauchen und wir auch lernen dürfen, dass es keine Alternativen mehr gibt, gibt es neue toxische Strukturen, die genau das verhindern. Eigentlich könnte es uns ja egal sein, was da passiert.

Blicken wir jedoch auf den letzten Wahlkampf, stellen wir die großen Auswirkungen fest. Erst nach der Wahl trauen sich PolitikerInnen, Inhalte ihrer Arbeit auch zu benennen. Vorher glich der Wahlkampf einer Show um die Beliebtheit von Persönlichkeiten, wobei das Motto der Projektionsfläche am besten funktionierte. Es war kein Kampf um die besten Inhalte. Es war ein Kampf darum, bei wem die Unentschlossenen ihre Wünsche und Ziele am besten hineinprojizieren konnten. Es galt: Je weniger gesagt wird, desto mehr schießt sich die Konkurrenz ins eigene Bein. Je konkreter man sich äußerte, desto weniger Chance auf Akzeptanz.

Nur was tun wir, wenn wir Politik und Entwicklung verwechseln mit Beliebtheit. Und was tun wir, wenn das toxische ICH der Wählerinnen und Wähler darüber entscheidet, was in Zukunft für Entscheidungen getroffen werden? Wenn Medien nur noch danach handeln?

Wir verdaddeln schneller unsere Zeit auf Social Media als uns mit sachlichen Inhalten auseinanderzusetzen. Denn dafür brauchen wir mehr Ruhe und die haben viele von uns im Alltag nicht. Zwischendurch auf die Plattform gehen, versaut schon mal einen ganzen Arbeitstag. Warum? Weil man nach Entlastung sucht. Die persönlichen Entwicklungsschritte, die notwendig wären ums ich diese Entlastung selbst zu schaffen, werden durch den Gebrauch einer jeder App abgeflacht und die Einladung zur Entladung durch entsprechende Algorithmus ausgesprochen.

Ich bleibe dabei und bin fest davon überzeugt, dass wir dieser gesellschaftlichen Entwicklung mit Verantwortung entgegnen müssen. Es braucht einen klaren Blick auf das, was wir da mit uns und unserem Kopf, Gefühlen und Umgang mit uns selbst machen. Auf dem Cover meines Buches habe ich gefragt: Warten wir auf den Zusammenbruch oder finden wir das toxische ICH?

Müssen wir also erst alles gegen die soziale, wirtschaftliche, menschliche und psychische Wand fahren, bevor wir merken, dass wir so nicht weitermachen können oder sind wir bereit, Entwicklungen zu prüfen und ihnen eine Antwort zu geben?  Dieses ständige „Vor-die-Wand-fahren“ hinterlässt so viele Schäden, dass sie irgendwann auch nicht mehr beherrschbar sind.

Ich wäre so gerne bereit zu sagen, dass wir noch Zeit für diese Entwicklung haben. Haben wir jedoch leider nicht. Die Art, wie wir leben, beschreibt die Art, wie wir mit der Welt und somit auch der Umwelt umgehen. Das beginnt genau dort, wo persönliche Gefühle nicht verarbeitet sind und durch externe Entlastungsmomente entladen werden. Müssen diese Gefühle entladen werden, wird es jemanden geben, der sie entlädt. Den Bedarf, sich gut fühlen zu wollen, wird der Umsatz eines privaten Unternehmens sein. Dies kann man nur begegnen, wenn wir endlich auf Beziehungen und Menschlichkeit setzen. Wir dürfen einfach nicht akzeptieren, dass der innere empfundene Mangel zum Hauptakteur von menschlichem Handeln führt, sondern müssen die Verantwortung übernehmen, diesem Mangel eine menschliche Antwort zu geben, die nichts mit Konsum von Gefühlen, Produkten oder Bildern zu tun hat. Wenn du satt bist, ist es immer einfacher zu entscheiden, wie du dich ernähren möchtest, als wenn du unter Stress und hungrig deine Leere stillen musst.

An dich, wenn du in der Persönlichkeitsentwicklung arbeitest:

Ja, du hast recht. Vielleicht werden deine Inhalte nicht so oft geklickt wie die Inhalte derer, die dir Schweißperlen auf die Stirn treiben. Das liegt jedoch nicht daran, dass deine Inhalte unwichtig oder falsch sind, sondern einfach nicht so viel Wut auslösen. Also genau das, was du auch willst. Ich hoffe, dass du dennoch einfach weitermachst und deine Alternative anbietest.