Wer sich nicht an Regeln hält…

Es ist der 2.3.2022. Der 7. Tag Ukraine-Krieg. Mein Tag fängt an mit dem Statement des Emsdettener-Rates in der Emsdettener Volkszeitung: „Wir stehen gemeinsam ein für Frieden, Demokratie und Menschenrechte und stellen uns gegen jegliche Form von Aggression und Krieg, sei es national wie international.“ (Quelle: https://www.ev-online.de/lokales/emsdetten/emsdetten-steht-auf-518812.html#Comments)

 

Genauso wir müssen uns gemeinsam gegen jegliche Form von Aggressionen stellen. Jegliche Form. Ich fühle mich wohl mit dem Gedanken, dass uns unsere Werte wieder bewusster werden und fühle mich schrecklich hilflos in Anbetracht der Situation. 

 

Ein paar Stunden später… 

Ein paar Stunden später sitze ich nicht weit vom Rathaus vor dem riesigen Lebensmittelhandel am Seiteneingang und warte mit Hund und Kind auf meine Mutter. Rechts von mir steigt eine Frau von ihrem Rad ab. Sie hebt eine weiße Tüte aus ihrem Fahrradkorb. Sie selbst kann ich nicht erkennen, Maske und Kapuze verhindern den Blick. Sie streut auf ein Beet Vogelfutter. Ich erinnere mich an einen Bericht des WDR Lokalzeit Münsterland über einen solchen Fall. Die Frau aus dem Bericht wurde im Februar zu 8.500,00 Euro Bußgeld verurteilt. Denn das Füttern von Tauben ist im Innenstadtbereich seit 2019 auf öffentlichen Boden in Emsdetten verboten. Hänge ich zwei Meter weiter auf meinem Balkon einen Meisen-Knödel auf, kann ich mich wiederum als guten Menschen bezeichnen, der den Vögeln hilft zu überwintern. Diese Situation ist verwirrend, aber auf beiden Seiten auch nachvollziehbar. Es handelt sich um eine Ordnungswidrigkeit, deren Verfolgung im Ermessen der Behörde bleibt. Berichten zufolge liegen bereits Bußgeldbescheide in Höhe von insgesamt 16.000,00 € vor. Das ist einiges.

Während ich darüber nachdenke, ob ich auch den Arsch in der Hose hätte, nach einem solchen Verfahren dann noch weiter Vögel zu füttern (wenn es mir wichtig wäre) und ob es sich wirklich um diese Frau handelt, ich den Spatzen dabei zuschaue, wie sie das angebliche Taubenfutter genüsslich aufpicken, ruft von der linken Seite eine Frau mittleren Alters zu mir rüber: „Schrecklich diese Frau, ne? Einfach furchtbar solche Personen!“ Wie eine Vierjährige im Kindergarten hebe ich meine Hände und mache einen „Spiegel“ und stottere noch den Satz raus: „Lassen Sie mich damit bitte in Ruhe!“

 

Ich sitze in Emsdetten, welches sich gegen jegliche Aggression ausspricht, keine 250 Meter vom Rathaus entfernt und bin in einer selbst produzierten Micro-Aggression ausgesetzt. Narrative einer Taubenfrau, die durch das Verfahren geschürt wurden, lassen andere Menschen glauben, dass diese Form des Menschenhasses sozial akzeptiert sein könnte und suchen nach Verbündeten. Zum Verständnis: Die „Taubenfrau“ füttert auf öffentlichen Boden Vögel. Das ist nicht erlaubt. Darf sie nicht. Hat sie mehrere Bescheide der Stadt bekommen. Ist eben eine Ordnungswidrigkeit. Lockt Ratten an und stellt eine Verschmutzung dar. Ist doof und braucht ne andere Lösung. Das ist rechtlich nicht zu beanstanden. 

 

Die Forderung der Frau ist ganz einfach: Sie kann die Tiere nicht verhungern lassen und bittet die Stadt darum, ein Taubenhaus aufzustellen, wo kontrolliert die Eier gegen Gipseier ausgetauscht werden können, damit die Population kontrolliert verkleinert werden kann. Sie kann es nicht ertragen, dass die Tiere einfach verhungern. Ob das stimmt oder nicht, kann ich nicht entscheiden.

Was ich jedoch entscheiden kann, ist der Umgang damit. Wie haltbar sind uns unsere Werte, wenn sich jemand in unserem direkten Umfeld nicht an unsere Regeln hält. Eine Ordnungswidrigkeit soll sich genau nicht dazu qualifizieren lassen, das Ansehen einer Person zu beeinflussen. Genau das ist Zweck des Ordnungswidrigkeiten-Gesetzes. Warum braucht es in dieser Situation so viel Härte? Die Taubenfrau wird – egal wie hoch oder niedrig der Bußgeldbescheid sein mag- aktuell das Verhalten wohl nicht einstellen. Weil sie nicht kann. Wäre es nicht daran herauszufinden, wann sie es können würde? Geht es nicht darum, dass Verhalten zu Begrenzen und nicht diese Frau als Mensch zu diskreditieren?

Ist es nicht genau das, was wir tun müssen: Zu lernen zwischen Verhalten und Menschsein zu unterscheiden? Es lässt mir keine Ruhe, dass wir ständig Frieden fordern und überall kleine Kriege führen. Solidarität ist ein hohes Gut, kann sich jedoch erst dann richtig entfalten, wenn es eine Haltung ist und nicht nur eine punktuelle Meinung. Ordnungswidrigkeiten sollten nicht dazu führen, dass Menschen öffentlich an den Pranger gestellt werden. Dort, wo Recht keine Veränderung herbeiführt, braucht es vielleicht andere und kreative Wege, ein neues Recht aber mit Sicherheit nicht die soziale Akzeptanz von Micro-Aggressionen. Egal welches Verhalten gezeigt wird, es darf nicht dazu führen, dass unsere eigenen Werte einem Haltbarkeitsdatum ausgesetzt sind.

Es ist hart auszuhalten, dass Menschen sich bewusst nicht an unsere Regeln halten. Es ist schrecklich, wenn dadurch Schaden entsteht. Es macht Angst und fassungslos und führt zu Ambivalenzen. Es stellt unsere Werte auf eine harte Probe. Es verlangt, dass wir die Würde des Menschen hervorheben und das Verhalten verurteilen. Es verlangt, dass der Mensch in seinem Kern nicht angegriffen und zerstört wird, sondern lediglich seine Handlungen beschränkt werden. Es verlangt, dass wir nicht zu den gleichen Mitteln greifen wie jene, die wir durch ihr Verhalten anprangern. Es verlangt, dass wir differenzierter denken. Tun wir das nicht, überschreitet dies Grenzen, die wir nie wieder rückgängig machen können. Es beginnt im Kleinen und endet im Großen. Beginnen wir also dort, wo wir selbst handlungsfähig sein können.

Egal wie schrecklich es ist und egal, was gerade passiert. Es sollte niemals dazu führen, dass wir andere Menschen angreifen. Es muss dabei bleiben, dass wir für unsere Werte und Ordnung einstehen, wehrhaft bleiben, jedoch nie den Menschen in seiner Würde angreifen. Und so kann ich nur hoffen, dass die großen und kleinen Kriege nicht dazu führen, dass wir die soziale Ächtung als probates Mittel entwickeln. Wer sich nicht an Regeln hält, kann nicht an den Vorzügen einer freien Gesellschaft teilnehmen. Dessen Verhalten, Teilhabe und Freiheit wird begrenzt. Der muss begrenzt werden. Begrenzt und das Verhalten verurteilt werden jedoch nie der Mensch, sondern immer nur sein Verhalten. Sonst kommen wir in Teufelsküche mit unserer freiheitlichen und demokratischen Grundordnung. Wir können unsere Grundordnung nur schützen, indem wir sie auch leben.

So stellt eben nicht nur die große politische Situation unser Ordnungsgefühl auf den Kopf, sondern bereits jedes Verhalten, welches sich gegen unsere Regeln stellt. Ich kann mir nur wünschen, dass der Umgang mit der Taubenfrau einen anderen Ausweg findet und eine Lösung, die zeigt, dass Ohnmacht und Menschenhass nie die Antwort sein darf.

Ich dachte nicht, dass die Frage in meinem Buch, ob wir den Zusammenbruch wirklich zulassen, nun so schnell Realität wird. Dennoch mag ich dich einladen, weiterzulesen und weiter zu verstehen.