Wir sind immer noch bei dem Wochenthema „Grenzen anderer akzeptieren“ und wir brauchen jetzt die Geschichte von Anna. Denn Anna geht es nicht gut und wie wir uns es schon gedacht haben, hat sie das Angebot des dämlichen Schneeball-Network-Systems angenommen. Ich habe dir eine etwas komplexere Geschichte mitgebracht und ich möchte, dass du dich fragst, wer hat ihr überhaupt welche Grenze eines andere überschritten? War das soweit okay? Welche Grenzen gibt es und welche hätten schon viel früher akzeptiert werden müssen?
Anna hat also versucht, ihre Selbstständigkeit aufzubauen und ein etwas dubioses Angebot eines Schneeballsystems angenommen. Vor dieser Aktion wäre es ihr noch möglich, 8 Monate zu Hause zu bleiben, um sich von ihrem Burn-out auszukurieren.
Diese Situation sieht jetzt anders aus. Denn Anna hat den Hauptgewinn. Denn sie hat nicht nur ihr Geld für etwas ausgegeben, was nicht funktioniert, nein, sie schämt sich auch unendlich dafür. Denn durch diese Aktion kann sie sich den Vertrag im Fitnessstudio (den sie gemacht hatte, um sich etwas Gutes zu tun) auch nicht mehr einhalten und muss dort um Kulanz bitten.
Anne steht zu Hause in der Küche und schaut aus dem Fenster. Die Vorstellung, wieder arbeiten zu gehen, löst unendlichen Druck in ihr aus. Das Wissen, dass sie fast blank ist, dass sie jetzt auf Harzt IV angewiesen sein wird, dass ihr Leben einfach keine Wendung zu nehmen scheint, dass sie einfach kein Glück hat, lässt sie schwach werden. Ihre Gedanken ziehen sich immer weiter zu. Draußen scheint die Sonne. „Das Wetter kann so unerbittlich sein“, denkt Anna, denn in ihr scheint nicht die Sonne. Ihr ihr scheint gar nichts mehr. Die Enttäuschung tut so unendlich weh. Sie war wirklich bereit, alles zu geben. Aber sie fühlt sich nicht gut ständig, ihren Freunden mit ihren Networkprodukten auf die Nerven zu gehen und das größte Problem: Nachdem das Paket mit den Produkten bei ihr ankam, hörte sie nie wieder etwas von der Frau, die ihr das Verkaufscoaching versprochen hatte. Sie hatte jetzt für ein angebliches Starterpaket gute 5.000,00 € ausgegeben und konnte nicht so wirklich damit was anfangen.
Ihre Freunde hatten sie ja gewarnt und ihr sogar Alternativen gezeigt. Aber sie wollte ja nicht hören und jetzt? Mit wem sollte sie darüber sprechen, ohne sich dieser unterschwelligen Häme auszusetzen. Das konnte sie nicht. Das war zu viel. In diesen Gedanken versunken, meldete sich Elli bei ihr. Sie war eine neue Bekannte, die sie durch das Training kennengelernt hatte. Wenigstens das hatte funktioniert: Ein paar neue Kontakte konnte sie knüpfen.
Elli fragte Anna, ob sie vorbeikommen könnte, denn es ging ihr nicht gut und mit Anna könnte man so gut reden. Anna freute sich über Ellis Anruf. Elli kam vorbei und die beiden quatschten. So ging das über Wochen. Immer wenn Elli sich mit ihrem Ehemann stritt, rief sie Anna an und die beiden trafen sich und Anna half, wo sie nur helfen konnte.
Anna selbst ging es nicht gut. Aber es tat ihr gut, dass sie für Elli da sein konnte. Elli war schon so lange mit ihrem Mann verheiratet, das war wichtig. Schließlich stand eine ganze Ehe auf dem Spiel. Anna war nicht verheiratet, aber hätte alles dafür getan, auch so eine wichtige Sache wie eine „Ehe“ zu haben. Sie merkte, wie die „Ehe“ so einen hohen Stellenwert hatte, dass anscheinend die Ehekrise jede andere Krise klein wirken lässt. Sie verlor sich in diesen Gedanken. Welche Krise war es wert, sie anzuerkennen. Wie wäre es eigentlich, wenn sie mal mit Elli über ihre finanzielle Krise reden würde. Wenn sie mal erzählen würde, was ihr gerade passiert und das sie nicht weiß, wie es weitergehen würde. Vielleicht würde es ihr helfen, wenn Elli einfach mal zuhören würde. Anna nahm sich vor, beim nächsten Treffen mit Elli auch mal über ihre Sorgen zu sprechen.
Am nächsten Tag rief Elli wieder an. Weinend schluchzend fragte sie, ob sie vorbeikommen könnte. Es wäre etwas Unfassbares passiert. Elli verschob innerlich ihr Vorhaben und sagte zu. Es klingelte, Elli kam rein. Anders als erwartet strahlte sie über das ganze Gesicht. Anna war ein wenig verwirrt. Elli erzählte ihr überglücklich, dass Ellis Mann ihr einen Überraschungsurlaub für 4 Wochen gebucht habe und sie heute Abend noch losfahren würde. Er habe ihr seine Liebe bestätigt und wolle alles für die Ehe tun.
Elli strahlte. Anna dachte in dem Moment, dass sie so strahlte wie die Sonne, die auch dann strahlte, wenn es ihr selbst nicht gut ging. Sie freute sich sehr für Elli, wusste aber auch, dass ihre Themen jetzt warten mussten.
Elli war weg und meldete sich auch nicht. Sie war glücklich. Anna merkte, wie die Ablenkung durch Elli und die fehlende Möglichkeit, über Annas Themen zu sprechen, plötzlich ein riesen Loch hinterließen. Zwar meldete sich Lina (eine Freundin) immer mal wieder, aber die war auch beschäftigt mit ihrem Leben. Anna sagte wirklich immer erst etwas, wenn es gar nicht mehr anders ging. Sie konnte nicht mehr. Sie wusste einfach nicht mehr ein und aus und dieser innere Druck, wie es jetzt weitergehen soll, erschlug sie innerlich.
Sie versuchte mit diesem Gefühl noch eine weitere Woche zurechtzukommen. Der innere Druck wurde immer größer. Diese innere Unruhe war kaum auszuhalten. Beim Einkaufen entschied sie sich einfach mal was Leckeres zu kaufen und eine Flasche von ihrem Rotwein mitzunehmen. Sie packte zwei Flaschen ein. Zu Hause bemerkte sie, wie dieser Rotwein heute einfach guttat. Sie rief Lina an. Lina ging etwas gestresst ans Telefon. Anna wollte Lina fragen, ob sie Lust hatte, etwas rauszugehen. Lina konnte nicht, ihre Kleine war krank. Anna war etwas frustriert. Es hätte ihr so gutgetan, mal was anderes zu sehen. Aber sie musste wohl damit leben, dass, wenn sie mal was brauchte, keiner Zeit hatte oder sich Zeit nahm.
Die zweite Flasche Wein öffnete sich schneller als die erste. Sie leerte sich auch schneller. Und mit der zweiten Flasche Wein merkte Anna, wie der Druck sie in Wut umwandelte. Immer wenn sie mal jemanden brauchte, war niemand da. Niemand. Alle lebten ihr Leben, ließen ihren Mist bei ihr und gingen dann zurück in ihr Leben. Aber irgendwie war sie nie Teil dieses Lebens. Irgendwie war immer etwas anderes wichtiger, Familie oder Ehe. Aber genau das hatte sie nicht, war sie dann also nicht wichtig?
Am nächsten Morgen rief Lina an. Sie hatte ein komisches Gefühl gehabt und fragte Anna, was denn los sei? Anna erklärte ihr, dass alles gut sei. Sie wäre nur gestern gerne rausgegangen. Lina fragte, ob sie ihr helfen kann? Ob alles gut sei? Anna überlegte kurz, ob sie Lina erzählen sollte, was los sei. In dem Moment, in dem sie Luft holte, hörte sie Lina rascheln. Anscheinend machte Lina was nebenbei und hatte nicht so richtig Zeit. Und Anna wollte auch nicht ständig die Freundin sein, die alle belastet. Sie entschied sich um. Sie sagte, es sei alles okay und beendete das Gespräch.
Der Kater und der erneute Druck im Kopf, diese innere Unruhe: Anna fühlte sich ätzend. Aber so konnte es nicht weitergehen. Aber so ging es weiter. Elli kam aus dem Urlaub zurück. Anna und Elli trafen sich und Elli berichtete im Detail, wie sie und ihr Mann sich am Strand geliebt haben.
Anna ertrug das nur, indem sie Elli dazu brachte, mit ihr rauszugehen und sich die Geschichten an der Theke anhörte. Dann war sie wenigstens unter Menschen und konnte auch ein bisschen tanzen, denn tanzen tat sie gerne.
An einem dieser Abende schrieb Anna Lina, dass sie nicht mehr weiterwissen würde und auch nicht mehr könnte. Lina reagierte nicht. Sie antwortete am nächsten Morgen, dass sie schon geschlafen habe, was denn los sei? Anna sagte ihr, dass sie einfach nur ne Krise gehabt habe und das alles gut sei. Aber das stimmte nicht. Anna hatte zwar keine Sucht entwickelt, aber der Umgang mit sich selbst und der Umgang beim Feiern war mit Sicherheit kein ihr helfender. Und so kam es, dass Annas Nebel im Kopf immer größer wurde, sie Lina immer und immer wieder Andeutungen schickte, aber nie konkret sagte, was das Thema sei.
Nach ein paar Wochen ging es Lina zu weit. Sie fuhr zu Anna, um endlich mal mit ihr zu reden. Anna war sich nicht sicher, ob sie das Gespräch wollte. Sie saß mit Lina in Annas Küche. Lina sagte ihr, dass sie nicht verstehen würde, was los sei und fragte, ob sie ihr helfen kann. Anna erklärte Lina, dass es ihr nicht so gut ging, aber sie auch nicht richtig erklären könnte, was los sei. Sei traute sich nicht Lina zu erzählen, welch beschissene Entscheidung sie getroffen hatte. Lina wirkte genervt und erklärte ihr, dass sie nicht verstehen würde, was das hier alles solle und sie merken würde, dass irgendwas nicht stimmt. Anna verneinte und erklärte, dass sie das alles schon hinbekommen würde. Lina bat Anna darum, sich nicht immer nur zu melden, wenn sie einen Frust schieben würde. Das wäre doch keine Freundschaft, wenn es überhaupt noch eine Freundschaft wäre.
Lina ging. Anna rief Elli an. Denn Elli wusste, dass Anna sich nur dann melden würde, wenn es ihr wirklich schlecht ging. Das wusste Elli. Elli nahm ab und fragte Anna, was denn los sei. Anna erklärte ihr, wie es ihr ging und Elli fragte, ob sie auch morgen darüber reden könnten, sie wäre gerade mit ihrem Mann unterwegs und habe keine Zeit.
Anna stockte der Atem. Anscheinend war sie für alle der Mülleimer, sie war für jeden da, aber wenn sie mal jemanden brauchte, dann hatten alle anderen andere Prioritäten. Anna wurde wütend. Sie setzte sich auf die Couch. Es konnte doch nicht sein, dass sie keine echten Freunde um sich herum hatte. Sie ging ihr Telefonbuch durch. Wem konnte sie schreiben? Wer würde aufrichtig sein und hätte jetzt direkt Zeit, um sich mal um sie zu kümmern. Jeder wusste, dass Anna eine unglaublich starke Person war und sich nur meldete, wenn sie etwas brauchte, wenn es gar nicht mehr anders ging. Anna schickte zwei Nachrichten los. Keine Antwort. Sie ging einkaufen. Sie holte sich einen Wein. Während sie ihr erstes Glas Wein trank, sendete sie weitere Nachrichten. Dort standen nur ein paar Wörter: „Hey, hast du kurz Zeit? Bräuchte mal deinen Rat!“.
Insgesamt versendete Anna 15 Nachrichten. Niemand antworte. Manche lasen ihre Nachrichten, die meisten nicht. Dann platze Anna die Hutschnur und sie öffnete den Chat von Lina. Es reichte ihr. Wie konnte es sein, dass sie immer alles für alle tat, aber niemand für sie da war. Sie schrieb Lina, dass das alles das Allerletzte war und kündigte die Freundschaft auf. Auch Ellis Chat öffnete sie. Elli und ihre tolle Ehe. Immer ging es nur im Elli. Anna war davon überzeugt, dass Ellis Mann mit Elli nur spielte. Aber sie hatte es Elli noch nie gesagt. Anna überlegte. „Elli, hast du Zeit?“ – Elli antwortete sofort. Sie war mit ihrer Schwester unterwegs und kam erst in zwei Tagen wieder.
Plötzlich hatte Anna so ein anderes Gefühl im System. Elli fragte sie, was denn los sei. Anna erklärte, dass sie gerade nicht alleine sein wolle und es ihr superschlecht ging. Elli las die Nachricht, antwortete jedoch nicht. Anna hoffte, eine halbe Stunde war klar, dass Elli nichts mehr schreiben würde. Anna merkte, wie du Wut in ihr hochkochte. Wie gemein das war, Elli wusste ganz genau, dass sie sich nur meldete, wenn es ihr wirklich nicht gut ging. Dieses Gefühl, dass Anna ständig bekam, wenn es ihr nicht gut ging, dieser ständige Spiegel, dass sie damit nur nerven würde, drückte auf Anna. Es war kaum auszuhalten. Es war schrecklich.
Es war immer noch Samstag Abend und Anna beschloss, sich zu Recht zu machen. Sie konnte auch alleine raus gehen. Sie ging los in ihre Lieblingsdisco. Als sie reinging, sah sie ein paar Leute, die sie kannte. Sie bestellte sich eine Weinschorle, drehte sich um und sah plötzlich in die schönsten Augen, die sie je gesehen hatte. Ein unfassbar schöner Mann stand vor ihr. Ein unfassbar schönes Lächeln, meinte sie. Anna war irritiert. War sie wirklich mit diesem Lächeln gemeint? Ja, das war sie. Der Mann stellte sich als Benni vor. Anna war hin und weg.
Anna und Benni redeten den ganzen Abend, tanzten und näherten sich an. Anna fühlte sich unglaublich. Endlich war mal sie gemeint. Endlich war sie gemeint. Endlich ging es mal nur um sie. Der Abend ging so schnell vorbei, wie er gekommen war. Benni und sie tauschten Nummern aus und Anna ging nach Hause. Alleine, aber glücklich. Sie war wie auf Drogen. So etwas unfassbar Schönes hatte sie noch nie erlebt. Unfassbar.
Und? Was meinst du? Wer hat hier welche Grenzen nicht akzeptiert? Diskutiere gerne auf meinen Social Media Kanälen oder in meiner Facebook-Gruppe mit anderen Empathen über dieses Thema.
Ich dachte nicht, dass die Frage in meinem Buch, ob wir den Zusammenbruch wirklich zulassen, nun so schnell Realität wird. Dennoch mag ich dich einladen, weiterzulesen und weiter zu verstehen.