Der Black Monday, der Tag, an dem Facebook, Instagram und WhatsApp für mehrere Stunden nicht erreichbar waren, hallt noch einen Moment in mir nach.
Nicht so sehr die fehlende Funktionsfähigkeit als vielmehr die Reaktion darauf. Von „Es war so schön!“ – hin zu „Social Media ist eben nicht das echte Leben“ war vieles zu lesen. Die Hauptaussage war, dass es doch schön war.
Auch bei großen reichweitenstarken Persönlichkeiten wurde Martin Geiger als Zeitmanagement-Experte mit den Worten „Ich bin überzeugt, niemand wird sich auf dem Sterbebett wünschen: Hätte ich nur mehr Zeit auf Facebook verbracht“ zitiert.
Unabhängig der auszusprechenden Kritik gegenüber unseren Social Media Formaten, das Gefühl, das hier einiges aus dem Ruder läuft, was ich in meinem letzten Beitrag schon aufgegriffen hatte, gibt es jedoch noch einen Aspekt, der mich lange zum Nachdenken gebracht hat. Das ambivalente Verhältnis zu dem, was wir täglich tun.
Ich beschäftige mich täglich mit Inhalten, Postings und Meinungsäußerungen auf Social Media. Nicht alle Inhalte gefallen mir und dennoch gibt es einige Menschen, denen ich gerne meine Zeit und Aufmerksamkeit schenke. Ich investiere bewusst meine Lebenszeit in Social Media. Zu Beginn meiner eigenen online Tätigkeit fand ich es immer wieder unglaublich, wenn sich 100 Menschen zu meinen online Seminaren angemeldet haben. Ich habe mir dann immer vorgestellt, dass diese 100 Menschen in meinem Wohnzimmer sitzen. Hinter jedem dieser Accounts steckt ein Mensch. Dieser Mensch nimmt sich Zeit für das, was ich mitzuteilen habe, so wie du jetzt. Es gibt mir die Möglichkeit, mit Menschen in Kontakt zu kommen, die ich so nie kennenlernen würde. Es gibt echte Verbindungen, die ich online durch meine Tätigkeit schließen konnte und die ich nicht missen wollen würde.
Jeder Kommentar, jedes Like und jeder Post ist eine Mitteilung eines Menschen, der dahinter seine Lebenszeit mit den Inhalten anderer in Social Media packt. Das sind Verbindungen, die wir untereinander und miteinander haben. Wieso sollte das nicht das echte Leben sein? Ich sitze in meinem echten Leben an meinem Schreibtisch und schaue mehrmals am Tag mir die aktuellen Inhalte in meinen Newsfeeds an.
Ein Follower schrieb mir als Antwort auf meine Story, dass Social Media nicht das echte Leben sei, weil alle nur ihre Schokoladenseite zeigen würden. Es sei alles nur eine Darstellung des Egos.
Ja, vielleicht. Aber erlebe ich das offline auch. Offline sitze ich in Gesprächssituationen, in denen ich innerlich die Hände vor die Augen lege und denke: Warum kann es nicht einmal um die Sache gehen, warum muss es immer um die einzelnen Personen und ihr Ansehen gehen.
Social Media ist also ein Teil meines echten Lebens und es ist auch Teil deines echten Lebens. Wie kommen wir dann dazu, diese Zeit derart abzuwerten, wo wir sie doch genauso nutzen? Warum gehen wir so abwertend mit dieser Zeit und mit unserer eigenen Lebenszeit um? Woher kommt die Idee, dass wir wieder frei sind, wenn wir mal nicht online sind.
Zunächst lässt sich mit Sicherheit beobachten, dass viele Menschen ihre Lebenszeit nicht bewusst auf Social Media verbringen, sondern durchaus als Ablenkung von eigenen Themen ihre Zeit eher auf diesen Plattformen verdaddeln. Ja, vielleicht ist das so. Aber auch ohne Social Media würde man genügend andere Ablenkungen finden, um sich nicht um die bevorstehende Aufgabe kümmern zu müssen. Da bleibt doch die Frage offen, ob die grundsätzliche Abwertung gegenüber Social Media nicht auch nur wieder eine Symptomverschiebung ist, damit die eigene Abwertung gegenüber der eigenen Lebenszeit und das, was man mit dieser Zeit tut, nicht so auffällt.
Was passiert mit dir, wenn du das, was du tust, eigentlich ja gar nicht tust bzw. du meinst es besser wäre, wenn du es nicht tust? Du nimmst es nicht ernst. Man soll das ja nicht tun oder man soll nicht so viel Zeit dort verbringen. Du hast ja schließlich noch ein „echtes Leben.“ Dieses ständige unbewusste schlechte Gewissen bringt dich dazu, dich innerlich gegen dich selbst zu wehren obwohl du deine Handlungen nicht anpasst. Ich spreche hier nicht von einem suchtgefährdendem Verhalten, sondern von deiner täglichen unbewussten Routine mit deinen Aufgaben, deiner Zeit und somit auch mit deinem Leben umzugehen.
Ich weiß nicht, ob ich dir diese toxische Verdrehung darstellen kann und daher mache ich es noch mal ganz deutlich. Vor die steht ein Kaffee. Du trinkst diesen Kaffee. Währenddessen schaust du bei Instagram, Facebook und WhatsApp durch, wer dir geschrieben hat und was es Neues gibt. So verbringst du am Tag mehrere Zeitfenster. Dass du da sitzt, ist real. Dass dort echte Menschen posten und in Verbindung gehen, ist real. Dass dein Herz in dieser Zeit schlägt, ist real. Dass dein Körper in dieser Zeit lebt, ist real. Du atmest und dein Gegenüber atmet. So verbringst du vielleicht eine Stunde, zwei Stunden oder vielleicht auch mehr Stunden auf den unterschiedlichsten Plattformen. Das ist Teil deines realen Lebens und dennoch ist es möglich zu behaupten, dass das ja nicht das reale Leben ist. Eigentlich wäre es ja kein Blogbeitrag wert, wenn das, was da hinter steckt, nicht erstens so symptomatisch für unsere Art, wie wir mit uns umgehen wäre und zweitens daraus nicht auch eine Form der Verantwortungslosigkeit entsteht, die wir anderen immer gerne vorwerfen.
Das, was dahinter steht, ist das, was wir auch offline erleben. Wir übernehmen keine volle Verantwortung für das, was wir tun. Und wenn ich jetzt „wir“ schreibe, dann meine ich uns als Gesellschaft wir sind mit Dingen nicht einverstanden, sagen aber nichts. Wir wollen gesünder leben, tun es aber nicht. Du kannst gerne einmal überlegen, was es bei dir für Themen sind.
Dieses Fernhalten deiner inneren Vollverantwortung für deine Lebenszeit relativiert auch deine Aussagen, deine Handlungen und das, was du dir wünschst. Wenn du online sein willst, dann sei online. Ich gehöre zu den Menschen, die durch die Möglichkeit, online gehen zu können, sich mehr aufbauen konnte, als ich das jemals offline konnte. Wie und womit du deine Zeit verbringst, entscheidest du. Nur entscheide es. Wenn du auf Instagram rumdaddeln willst, dann daddel dort herum. Aber bezeichne diese Zeit nicht als Verschwendung. Tue es bewusst und setze dich mit dem, was du dort siehst und liest auch bewusst auseinander. Online haben Menschen die Möglichkeit, sich über den Kirchturm hinaus miteinander zu verbinden. Das hat wie alles Vor- und Nachteile. Natürlich besteht die Gefahr, dass man nur in seiner eigenen Bubble bleibt, natürlich besteht die Gefahr des Missbrauchs und natürlich besteht die Möglichkeit – und darauf möchte ich hinaus, – dass du feststellst, dass du mit deinen Themen nicht alleine bist. Strukturelle Einsamkeit bringt folgsame Menschen hervor. Das Gefühl, dass man alleine etwas nicht richtig oder richtig findet, belastet das eigene System, macht traurig und lässt weniger kommunizieren. Ich gebe dir mal ein kleines Beispiel. Letztes Jahr wurde auf TikTok die Information geteilt, dass Frauen ihre eigenen Unterhosen entfärben können. Die Kommentare unter diesen Videos haben mich zu Tränen gerührt. Viele junge Mädchen, die nicht wussten, dass die natürliche Reinigung ihrer Vagina ein Geschenk ist und kein Grund zu Scham zeigten sich und sagten: „Ich habe mich so dafür geschämt, ich dachte, ich sei die Einzige!“ Nein bist du nicht. Niemand ist „die Einzige oder der Einzige“. Und da ich mich auf toxische Strukturen konzentriere, bekommen die hier natürlich auch zum Zuge. Glaubst du, dass du die oder der Einzige mit einem Problem oder mit deiner Beobachtung, Handlung oder Gefühl bist, dann wird der Scham dazu führen, dass du nichts sagst. Das mögen toxische Strukturen, denn wenn keiner miteinander spricht, hat man eine ganze Gruppe, die nur durch Zufall (wenn überhaupt) auf die richtigen Informationen stoßen und damit ihre Scham ablegen können. Toxische Strukturen leben gerade davon, dass betroffene Menschen eines bestimmten Themas nicht miteinander darüber reden. Das haben wir nicht nur online, das haben wir auch offline. Aber: Offline ist das Erschaffen von Transparenz und Klarheit durchaus noch schwieriger, weil Abhängigkeitsverhältnisse auch gerne zum Schweigen führen.
So, und jetzt kommt natürlich das Gegenargument:
Es gibt also gewünschte Gründe, warum du erstens das Internet und die Zeit die du dort verbringst innerlich abwerten sollst. Für toxische Strukturen ist Vernetzung, Transparenz und Kommunikation tödlich. Jedoch ist genau das die Chance des Internets, genau das ist der Dienst den Social Media schenken kann. Aufzuklären, Informationen auszutauschen und sie für sich einzuordnen.
Ich hätte als junges Mädchen gerne gewusst, dass es normal ist, dass ich meine Unterwäsche selbst entfärben kann. Es wären mir einige Scham-Momente erspart geblieben.
Ich habe heute bewusst nicht die negativen Momente, wuttreibende Algorithmen, Missbrauch und alles beschrieben. Auch wenn es die gibt und deren Ausmaße nicht zu unterschätzen sind. Nur auf eins möchte ich zum Schluss noch aufmerksam machen. Du kannst gut erkennen, wie wenig ernsthaft die Zeit und auch die Inhalte auf Social Media betrieben werden. Du kannst es immer dann erkennen, wenn die fehlende Medien-Kompetenz dazu führt, dass Kinderfotos immer noch ein Thema sind.
Also schätze deine Zeit, entscheide dich bewusst und höre auf, so zu tun, als ob Social Media und die Beeinflussung in deinem Leben nur eine Randerscheinung seien. Wenn du dein echtes Leben dort verbringst, dann tue es und stehe auch innerlich dazu. Vielleicht haben wir dann einmal auch die Chance, dass unsere Kinder auch in der Schule Medienkompetenz lernen und sich damit auseinandersetzen dürfen.
Du siehst also, die toxische Ablenkung liegt nicht darin, dass du deine Zeit mit Social Media verbringst, sondern darin, dich von den Möglichkeiten hier – auch gesellschaftlich abzulenken. Wir lassen uns darauf konzentrieren, dass die Gefahr größer ist als der Nutzen. Dabei hat jeder Einzelne in der Hand, wie der Algorithmus funktioniert und wie wir mit welchen Inhalten umgehen. Solange uns Wut noch antreibt, bleibt alles bei der jetzigen Situation. Reifen wir gemeinsam als Gesellschaft auch mit diesen Medien nach, ist es und bleibt es eine echte Chance.