Dürfen wir uns mit den ersten Sonnenstrahlen dieses Jahres wohlfühlen, auch wenn wir in Krisenzeiten leben? Schließlich lebt Persönlichkeitsentwicklung doch davon, dass man lernt, sich auch was Gutes zu tun. Dass man lernt, sich selbst zu lieben und mit sich und den Dingen verbunden und im Reinen zu sein?
Beginnen wir von vorne, denn die Frage ist schon falsch. Ganz nach der Grundidee „Deine Armut kotzt mich an“ vernebelt sich der Gedanke um die eigenen Gefühle zu einer unbewussten Über-andere-stellen-Idee. Schließlich kotzt das Leid dann doch an, nur sagen würde es keiner in dieser Vehemenz, denn am Ende geht es darum, dass wir in einer individualisierten Gesellschaft gelernt haben, dass es um uns selbst geht. So drehen wir täglich um uns selbst und alles andere muss von uns ferngehalten werden, weil es uns ja nicht guttut.
Die Frage, ob es dir gut gehen darf oder nicht, stellt sich nicht. Es gibt keine Verbindung zu aktuellen Geschehnissen. Es ist deine individuell erlebte Sicht in diesem Moment. Wenn es dir gut geht, dann geht es dir gut. Wenn es dir nicht gut geht, dann geht es dir nicht gut. Das ist ein Status quo. Der Bedarf, es in die Verbindung zur Gesamtsituation zu beziehen, befriedigt etwas, was auf dem ersten Blick gar nicht klar ist: Deine Unsicherheit. Denn wenn du noch wählen kannst, wie es dir geht, ist auch klar, dass du nicht direkter Teil der Krise bist. Also kann es dir ja auch gut gehen, das beruhigt das eigene System. Es stabilisiert die Angstanteile in dir und hilft dir besser mit der Situation umzugehen. Das ist erlaubt, zeigt jedoch auch die Unsicherheit deines Systems. Denn nicht nur das Hartz 4 Fernsehen der letzten Jahre hat dir geholfen zu verstehen, dass du besser dran bist als andere, auch diese oben gestellte Frage wird dich beruhigen.
Toxische Verstrickungen leben davon, dass sich feinfühlige und besondere Menschen stets beruhigen. Dein eigenes System braucht Entlastung und schickt die Frage nach guten Gefühlen in den Raum. Jedoch geht es darum nicht.
Es geht darum, dass Persönlichkeitsentwicklung dir hilft, mit den Dingen umzugehen. Auf einer Sachebene. Es soll dir zeigen, wie du mit Informationen in dir und mit Informationen, die dich umgeben, so umgehst, dass du auf diese Dinge selbstbestimmt reagieren kannst. Es geht also nicht um eine Erlaubnis, ob du trotz des Leides auf dieser Welt dich gut fühlen darfst. Diese Frage würde überhaupt nicht im Raum stehen, wenn du innerlich nicht nach einer Entlastung suchen würdest.
Machen wir es an einem Beispiel klar, was einfacher zu greifen ist. Eine Deutschlehrerin sagte mir mal vor vielen Jahren, dass die Natur unerbittlich ist. Es scheint die Sonne, auch wenn du gerade um deine Liebsten trauern musst. Es regnet an Tagen, an denen neues Leben geboren wird. Die Natur fragt nicht, wie du sie haben willst, sondern sie antwortet, wie sie ist. Und so ist die Welt, egal wie es dir geht. Sie ist. Denn die Welt in ihren Ambivalenzen und in ihrem gefühlt immer größer werdendem Chaos zeigt sich nicht so, wie es dir guttut, sondern so wie sie sich entwickelt hat.
Sie entwickelt sich nach ihren eigenen komplexen Regeln. Was das mit dir zu tun hat? Vor 100 Jahren hätte ich dir gesagt, nicht so viel versuche einfach zu überleben.
Jetzt im Jahr 2022 sage ich dir: Sehr viel. Denn die Dinge sind so stark miteinander verbunden, dass du sie, auch wenn du das möchtest, ab einem gewissen Zeitpunkt nicht mehr von dir wegschieben kannst. Und so zeigt sich die gute Idee der Abgrenzung als toxische innere Entlastung, weil die Gesamtsituation dich überfordert und dennoch deine Entscheidungen braucht. Denn du kannst nicht von der Welt auswandern. So kommt die Welt seit ein paar Jahren offensiv auf dich zu und sagt: „Sieh hin, so kann es nicht weitergehen!“
Das wäre nicht so schlimm, wenn es nicht irgendwann auch in deiner direkten Umgebung zu Menschenhass und Irritationen führen würde. Denn was passiert, wenn du nicht hinschaust bzw. das Hinschauen dich überfordert? Genau, Radikalisierung und das Suchen nach dem Einfachen wird wieder das Mittel der Wahl. Das hatten wir schon, das wäre einfach keine gute Idee.
Und so wird sich irgendwann die Stabilitätsfrage einer Demokratie stellen müssen. Demokratie, die sich aufgrund eines totalitären Systems entwickelt hat, ist nur dann stabil, wenn nach der Angststarre die Mündigkeit durch Aufklärung und Wissen folgt. Diese Chance haben wir verpasst. Denn wir haben unsere Bildung nicht nach innere Reife und Entwicklung ausgelegt, sondern nach wirtschaftlichen Interessen. Das ist gut, aber hätte niemals die einzige Wahl der Entwicklung sein dürfen.
Es braucht Menschen, die weiterdenken und es braucht Menschen, die eben die Wirtschaft aufrechterhalten. Wirtschaft muss sich nicht nach den eigenen Zielen ausrichten, sondern nach dem Menschbild, welches sich entwickelt will. Die Nummer haben wir als Gesellschaft nicht gewuppt und die Rechnung tragen wir jetzt. So braucht es die sofortige Entlastung. Wenn du mit Kindern gerade über deinen Krieg redest, dann brauchen sie die Sicherheit, dass dieser nicht bis zur eigenen Tür geht. Dann können sie darüber reden. Erwachsene brauchen diese Sicherheit auch noch und erschaffen sich diese durch die persönliche Entlastung, dass es ihnen gut gehen darf. Jedoch braucht die Entwicklung der Persönlichkeit, damit die Entwicklung des Menschenbildes und die Weiterentwicklung einer Demokratie erwachsene und mündige Menschen.
Darf es dir also gut gehen? Klar! Wenn es dir gut geht, geht es dir gut. Das ist schön. Hat aber nichts damit zu tun, ob du dich mit Krisenthemen beschäftigst oder nicht. Genau das ist die Kunst von Persönlichkeitsentwicklung: Du entscheidest, wie es dir geht, egal was im außen ist. Jedoch nicht, weil du dich von allem fernhältst, sondern weil du mit allem umgehen kannst, du mündig bist und weißt, was du jetzt tun willst.
Ich dachte nicht, dass die Frage in meinem Buch, ob wir den Zusammenbruch wirklich zulassen, nun so schnell Realität wird. Dennoch mag ich dich einladen, weiterzulesen und weiter zu verstehen.